Artikel von Franz Fuchs aus „Der fröhliche Kreis“, 34. Jahrgang 1984, Heft 2, Seite 57-60
Ich habe dieser Tage an einer kleinen Tanzschulung in Wien teilgenommen. Gezeigt wurde unter anderem der Tanz „Friedrich Sinke“. Vorher erklärte der Tanzleiter:
„Der Tanz wurde in den letzten Jahren in Wien ‚falsch‘ getanzt, daher absichtlich nicht mehr aufs Programm gesetzt. Er wird jetzt ‚richtig‘ vorgezeigt, auf die ‚Originalbeschreibung‘ zurückgeführt. Jeder Tanzleiter muss von Zeit zu Zeit alle Beschreibungen durchlesen, um die Tänze richtig zu tanzen.“
Die anschließende Tanzausführung stimmte nicht mit der Musik überein (Vielleicht wurde die Originalbeschreibung doch zu wenig genau gelesen?) Sie wurde daher gewaltsam der Musik angepasst und stimmt jetzt in diesem Punkt nicht mehr mit der Beschreibung überein.
Es gibt mehrere Beschreibungen dieses Tanzes. Mir zugänglich sind folgende:
- Fritz KUBIENA, Kuhländler Tänze, gesammelt 1908 bis 1913
„Friedrich Sinke“ (auch ‚Friedrichs Rosina‘, ‚Strasak‘) - Oswald FLADERER, Die Sudetendeutschen Volkstänze 3+4, ges. 1925
‚Friedrichs Sinke‘ (‚Judassiebene‘, ‚Affentanz‘, ‚Hühnerscharre‘) - Karl HORAK, Deutsche Volkstänze aus dem Karpatenraum, aufg.1936
„Kurzwalder Dreier“ (zu dritt), auch ‚Friedrich Sinke‘ - Siegfried KNIRSCH, 36 Heimattänze
‚Feder dich‘ (‚Hühnerschorr‘) - Gerhard RITTNER, Tänze unserer Heimat, herausgegeben 1952
‚Feder dich‘ (‚Hühnerschorr‘)
Verwiesen wird in diesen Ausgaben noch auf andere Quellen, die ich nicht besitze. Außerdem finden sowohl die einzelnen Figuren als die Namen auch für andere Tänze Verwendung.
Jede dieser Beschreibungen ist in Details anders. Ich tanzte seit meiner Jugend (seit 1956) immer einen Tanz ‚Friedrich Sinke‘, der aus Elementen aller dieser Beschreibungen besteht. Diese Form ist mindestens seit 1933 in Wien nachweisbar (gelernt bei Otto HIEF). Ich kenne aber keine schriftliche Beschreibung dafür. Sie hat sich in dieser Zeit nicht verändert. Am ähnlichsten ist sie dem Tanz ‚Feder dich‘ bei KNIRSCH bzw. RITTNER. Der Name ‚Feder dich‘ kommt übrigens von einem Liedtext.
Interessant ist, dass sich in unserer Tanzgruppe spontan eine Form mit 2 Tänzerinnen entwickelt hat, recht ähnlich dem „Kurzwalder Dreier“, aber nicht von diesem beeinflusst. Sie wird nur am Gruppenabend und nur bei Tänzerinnenüberschuss getanzt. Welche dieser Beschreibungen ist jetzt richtig? Und sind die anderen alle falsch? Oder auch nur teilweise falsch? Oder gibt es nicht auch die Möglichkeit, dass in der Überlieferung ein Tanz in verschiedenen Orten oder zu verschiedenen Zeiten verschieden getanzt wurde? Oder haben vielleicht die Überlieferungsträger 1925 bereits falsch getanzt? Sie haben sich ja schon damals nicht an die bereits von KUBIENA schriftlich fixierte Ausführungsart gehalten!
In letzter Zeit versuche ich, Lieder (und Tänze) aus der Überlieferung meiner Familie und meiner Umgebung aufzuzeichnen. Dabei ist mir etwas aufgefallen. Ich habe jetzt ein handschriftliches Liederbuch bekommen, das meine Großtante Lina LANGER, geb. 1877, geschrieben hat. Einige dieser Lieder habe ich von meinem Vater bereits vor Jahren übernommen, teilweise habe ich diese Lieder sonst noch nirgends gehört. Nun gibt es da und dort kleinere und auch größere Unterschiede. So ein Lied singt etwa mein Vater ganz anders, als ich es von ihm in Erinnerung habe. Das kann natürlich auch an meiner Erinnerung liegen. Im Liederbuch der Tante Lina steht es aber wieder anders. Dieses Lied wurde durch drei Generationen schriftlos überliefert. Wer singt es jetzt falsch? Vater hat diese Lieder nie pflegerisch behandelt, hat sie nur gesungen zur Unterhaltung der Zuhörer, bunt gemischt mit eher modernen Gedichten.
Die schriftliche Fixierung aus dem alten Liederbuch passt teilweise nicht gut zu meinem Dialekt. Anscheinend hat sich auch die Sprache etwas gewandelt. Ich fühle mich jedenfalls berechtigt, bei meiner Version zu bleiben. Ich glaube, es gibt dabei kein „falsch“ oder „richtig“, höchstens ein „anders“.
Ich glaube, diese Erkenntnis passt auch zum Volkstanz. Auch beim Tanz könnte man unterscheiden zwischen „pflegerischem Tanzen“ und „geselligem Tanzen“.
Unter pflegerischem Tanzen verstehe ich die bewusste Pflege von für wertvoll gehaltenem Tanzgut. Der Zweck ist meistens, es irgendwo vorführen zu können, vielleicht auch nur, auf irgendeinem Tanzfest sein Können zeigen zu können. Auch das ist Vorführung und wird von Außenstehenden meistens auch so empfunden. Man tanzt daher so „schön“ bzw. „richtig“ als möglich und muss das dann auch jede Woche proben.
Geselliges Tanzen ist dagegen Tanz zum eigenen Vergnügen, vielleicht auch zum Vergnügen des Partners. Was man tanzt, ist eigentlich nicht so wichtig, ist höchstens Mittel zum Zweck. Das Umfeld ist fast wichtiger: eine gemütliche Umgebung, eine gute Musik, aber nicht zu laut, damit man noch tratschen kann, …
Natürlich gibt es zwischen diesen beiden Extremen jede Menge Berührungspunkte bzw. Übergänge. Ich glaube, die meisten unserer Tänze entstammen ursprünglich dem geselligen Tanzen. Die Überlieferungsträger haben sicher nicht getanzt, um die Überlieferung zu pflegen, oder um den Tanz vorzuführen, sondern aus geselligen Gründen. Es gab aber auch früher schon pflegerisches Tanzen. Etwa war der großartige „Steinhauser Landler“ sicher nie zum geselligen Tanzen geeignet.
Die Volkstanzbewegung betont eher das gesellige Tanzen. Wichtig sind nicht so sehr Vorführungen. Sie werden teilweise sogar abgelehnt. Wichtig ist das Miteinander Tanzen. Auf das dazugehörige Umfeld vergisst man allerdings oft. So wird dann aus dem Gruppenabend ein Probenabend, womöglich mit Anwesenheitspflicht und aus dem Tanzfest wird eine Massenvorführung.
So ein Tanzfest-Veranstalter wünscht sich gern eine bestimmte Schulform. Alle anderen Formen werden auf dem Fest schief angeschaut, obwohl sie genauso überliefert sind oder zumindest eine mögliche Lebensform darstellen. Man hört da gleich das böse Wort vom „falsch tanzen“.
Für Vorführungen gilt das folgende natürlich nicht. Beim geselligen Tanzen finde ich aber eine Einteilung in „falsch“ und „richtig“ eigentlich unpassend. Ich meine, man sollte einem guten Tänzer zugestehen, einen Tanz so zu tanzen, wie er persönlich es für richtig empfindet, nach einem Überlieferungsträger, den er selbst sich aussucht. Vielleicht bringt er sogar einzelne persönliche Eigenheiten im Tanz unter. Herbert LAGER nennt das „Lebensform“.
Wir haben immer wieder Nachricht, dass auch die Überlieferungsträger das gemacht haben. Natürlich entsteht dabei ein gewisses Durcheinander. Sicher kann so nie eine wissenschaftlich fundierte Vorführform entstehen. Sind aber Vorführungen wirklich so wichtig?
Vielleicht entsteht so ein Volkstanz!?
Entnommen aus „Der fröhliche Kreis“, 34. Jahrgang 1984, Heft 2, Seite 57-60
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